Jetzt studiere ich schon 1,5 Jahre an einer japanischen Universität, aber man kann mich immer noch überraschen. Im Rahmen meiner Doktorarbeit muss ich Unterlagen aus einigen Archiven hierzulande besorgen. Leider hört sich dieses Vorhaben leichter an, als es im Endeffekt ist. So werde ich seit Wochen von einem Archiv vertröstet. Mal ist es nicht geöffnet, mal fehlt der richtige Ansprechpartner und eigentlich ist man sowieso immer überrascht, dass ich mich als Student melde. Nach langen Telefonaten und Versuchen habe ich es in der letzten Woche nun endlich geschafft, die vermeintliche Lagerstätte einiger interessanter Akten zu erfahren und zu meiner Freude kann man von diesen auch Kopien direkt nach Sendai bestellen. Wozu habe ich also einen neuen Tutor? Mit Norihiro im Gepäck ging es direkt in die Universitätsbibliothek, um die Kopien zu bestellen. Im Rahmen dieser Bestellung fand ich nun endlich heraus, wieso ich die derzeitigen Probleme mit den Archiven in Japan habe:
In Deutschland wird von einem Studenten erwartet, dass er sich um solche Dinge wie die Materialbeschaffung selbstständig kümmert. Kontakt aufnehmen, Informationen bekommen und Akten besorgen ist dabei nur ein Schritt. Natürlich ist die gesamte Forschung zuvor auch durch den Studenten zu vollziehen. Hier in Japan scheint dies anders zu laufen, wie ich jetzt selbst erleben konnte. Anstatt einfach nur meine Unterlagen zu besorgen, schickte mir ein Mitarbeiter der Bibliothek eine Stunde nach meiner Bestellung eine E-Mail, dass sie ein passendes Buch zu dem Thema gefunden hätten. Schön, dachte ich mir, die denken mit und bemühen sich wirklich um einen. Es kam aber noch besser: Einen Tag später erhielt ich erneut eine E-Mail, dass die Bibliothek mittlerweile in einem anderen Archiv auf weitere Unterlagen gestoßen ist, die für mich interessant sein könnten. Endlich verstand ich, dass dies nicht nur einfaches Mitdenken ist. Nein, in Japan ist es nicht vorgesehen, dass Studenten selber forschen müssen. Mit meiner Bestellung habe ich im Endeffekt einen Forschungsauftrag eingereicht und die Bibliothek versucht nun, für mich Material zu meinem Thema heranzuschaffen. Das ist natürlich für die Archive auch besser. So müssen sie ihre wertvollen Archivalien nicht in die Hände von „Amateuren“ (also Studenten) geben, sondern können mit ausgebildeten Bibliothekaren kommunizieren. Wieder einmal bestätigt sich, dass es in Japan schwerer ist, in die Universität zu kommen, als in ihr zu bleiben. Aus diesem Grund hatten also Studenten der Geisteswissenschaften in meinem Kenkyoshitsu noch nie etwas von dem Wort Archiv gehört und waren so überrascht, als ich von meinen Plänen erzählt habe. Hierzulande braucht das ein Student also nicht selbst zu machen. Für mich heißt das wiederum, dass die Archive, die sich bisher quergestellt haben, von nun an über meine Bibliothek kontaktiert werden. So sollte die Forschung endlich vorangehen.
Übrigens fühlte ich mich bei meinem Bibliotheksbesuch noch aus einem anderen Grund wie im falschen Film: Seit meiner Ankunft gibt es hier nur eine Behelfsbibliothek, da das Hauptgebäude im Bau ist. Seit Neuestem ist der Eingang zur Bibliothek in der Nähe eines Notausgangs zwischen Zeitschriften- und Zeitungsbeständen. Und welche Zeitung strahlt mich dabei in vollständiger Auflage an? Das „Neue Deutschland“, die Propagandazeitung meines Geburtslandes bzw. „das Zentralorgan der SED“. Als ich noch über diesen Zufall grübelte und mit Norihiro die Bestellungen durchsprach, sprach mich zudem noch wie beiläufig mein Nachbar an und fragte im akzentfreien Deutsch, was ich denn hier mache. Als ich noch unbekümmert auf Deutsch antwortete, wurde mir schlagartig klar, wo ich mich befand und dass dies kein normales Gespräch war. Ich hatte es geschafft, mich neben einen Japaner zu stellen, welcher vor zwanzig Jahren in Münster promoviert hat und heute in Sendai Deutsch unterrichtet. Die Welt ist wirklich klein!
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