Reisen durch das nächtliche Sendai

Es gibt Dinge, die werde ich wohl nie verstehen. Eine dieser Sachen ist der Unwille von Menschen, anderen in einer Notlage zu helfen. Besonders seit ich vor ungefähr 5 Jahren einmal auf dem Bahnhof in Braunschweig krank wurde und sich niemand kümmerte, schaue ich dagegen heutzutage lieber zweimal hin. Als ich heute spät abends durch Sendai in Richtung Heimat radelte, traf ich auf ein seltsames Bild: In einem Eingang lag eine Frau mittleren Alters und zeigte keine Regung. Was sollte ich machen? Einfach weiterfahren entspricht nicht meinem Naturell, aber auch das Anhalten war zu fortgeschrittener Stunde nicht unbedingt ganz oben auf meiner Liste der Beschäftigungen. Da ich aber nun mal die Situation gesehen hatte, hielt ich an, um mich mit der Situation zu beschäftigen.

Da stand ich nun. Die Dame zeigte keine Regung und selbst eine Atmung konnte man auf die Entfernung nicht feststellen. Ein Ansprechen ergab kein Ergebnis. Die Betroffene blieb bewusstlos. Wie sollte ich also vorgehen? In Japan darf man eine Person vom anderen Geschlecht nicht einfach anfassen. Selbst unter guten Vorsätzen kann ein Anfassen schon eine Vergewaltigungsanklage auslösen. Immerhin konnte ich nach längerem Betrachten der Situation eine Atmung feststellen, was mich schon einmal etwas beruhigte. Noch unschlüssig, wie ich mich verhalten soll, hielt ich Ausschau nach einem Polizeiauto oder einem Japaner, der mir vielleicht helfen könnte. Natülich gab es nichts, wie hätte es auch anders sein können! Die Japaner schauten lieber in die andere Richtung und beim direktem Ansprechen konnte natürlich niemand mein Japanisch verstehen. Es ist ja auch so schwer, eins und eins zusammenzuzählen, wenn ein Ausländer auf eine bewusstlose Person zeigt und um Hilfe bittet. So langsam wurde ich genervt und drehte die Musik meines Handys lauter und sprach noch einmal mit lauter Stimme auf die Dame ein, welche endlich ein Stöhnen von sich gab. Apathisch gab sie aber keine Antwort an mich sondern sie versuchte, unter Röcheln ihre Goldkette vom Hals zu bekommen, als ob sie nicht atmen konnte. Immerhin, sie war zwar nicht ansprechbar, die erste große Gefahr schien aber beseitigt zu sein. Obwohl die Situation besser war, war ich noch nicht zufrieden. Offensichtlich ging es ihr nicht gut und sie war desorientiert. Kurzerhand lief ich rüber zum örtlichen Combini, wo für einen Gast drei Angestellte Dienst hatten. Ich erklärte kurz dem ersten Angestellten die Situation, nur damit dieser gemütlich zum Kollegen schlenderte und ihm die Situation schilderte. Zusammen schauten sie aus der Tür rüber und entschieden nach unendlichen Minuten, den dritten Mitarbeiter zu fragen. Das Schauspiel wiederholte sich bis sie ihren Vorgesetzten riefen, welcher dann endlich mit mir losging, um nach dem Rechten zu schauen.

Die Dame lag natürlich immer noch da und rührte sich nicht wirklich. Mein Begleiter sprach sie laut aus der Entfernung an, ob sie in Ordnung sei. Endlich erwachte sie wirklich und vermeldete, in Ordnung zu sein Dies reichte dem Angestellten, um wieder zur Arbeit zu gehen. Dass die Frau es weder schaffte sich aufzusetzen, noch ein klares Wort herauszubringen, bemerkte er zwar, entschied aber auf zu viel Alkohol. Mir persönlich war diese Einschätzung zu oberflächlich, schließlich sprachen verschiedene Dinge dagegen. Zum einen betrinkt man sich nicht unbedingt beim Einkaufen und drei Taschen zeugten von einer Shoppingtour in der Innenstadt und zum anderen roch man auch keinen Alkohol. Unentschlossen beriet ich mich über Telefon mit Orsolya und entschied, nach einigen Minuten noch einmal nach dem Befinden zu fragen und mich zu erkundigen, ob ich vielleicht ein Taxi besorgen soll. Da mir nun zwar nicht überzeugend, aber immerhin an mich gerichtet, gesagt wurde, dass dies nicht notwendig sei, ließ ich es auf sich beruhen und ging nach Hause. Die Frage ist nur weiterhin: Wie viel Wahrheit steckt dahinter? Japaner hassen es, Schwäche zu zeigen und schon die eine oder andere mindestens 90-Jährige hat den im Bus angebotenen Sitzplatz abgelehnt, da sie ja schließlich noch fit sei. Immerhin war aber mein Gewissen beruhigt und ich konnte den Abend noch genießen.

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