Das verspätete Abschlussfoto

Ist denn wirklich schon ein Semester vergangen? In den letzten Tagen war an Japans Universitäten kaum ans Arbeiten zu denken. Überall in der Stadt standen in Grau gehüllte Studenten, welche Abschiedsbilder von ihrem Universitätsleben schießen wollten. Dazu muss man wissen, dass in Japan fast alle Universitätskurse im April anfangen, während dies in Deutschland bekanntlich eher das Wintersemester betrifft. Zum Zwecke des Graduierens kommen nun alle Studenten in Anzügen zur Universität und lassen sich noch einmal mit Freunden und Professoren ablichten. Erst durch diese Tatsache bemerkte ich, dass damit fast alle meine alten Bekannten die Universität verlassen werden. All diejenigen, welche ich schon 2010 kennengelernt habe, sind jetzt mit Ausnahme von Shimizu fertig und der kommt ja erst nächstes Semester zurück nach Japan. Das Leben wird einsamer im Büro und meine Stimmung war schon etwas bedrückt, als sich das wirkliche Unglück ereignete.

Mein Büro hatte ebenfalls Fotosession und ich wusste nichts davon. Da normalerweise nur Graduierte auf das Foto kommen, sollte das normalerweise kein Problem sein. Da ich aber im Jahr 2011 das Foto verpasste, meinten mein Professor und einige der Graduierten auf einmal, ich müsse unbedingt mit abgelichtet werden. All mein Hadern half nichts, der zwei Köpfe größere Deutsche, welcher zu allem Überfluss auch noch im orangen Hemd erschienen war, musste mit drauf. Zum Glück war ich aber nicht der Einzige, der nicht begeistert von dem Fotoshooting war. Shimizus guter Freund und Drummer seiner Band, Matsubara, war gar nicht begeistert. Mit seinen ca. 1,60 m Körpergröße machen wir schon oft genug den Scherz, dass er im Vergleich zu mir wie ein Kind erscheint. Das kann sich ein stolzer Japaner natürlich nicht gefallen lassen und er versuchte, zum Rand des Fotos zu fliehen, um nicht den direkten Vergleich mit mir zu haben. Da seine Nachbarn ihn aber unbedingt neben sich haben wollten, zog ich ihn kurzerhand am Kragen zurück und erklärte freundlich, dass die Flucht nur feige wäre. So erhielt ich nach der ausgefallen Feier für das Masterzeugnis in Göttingen letztendlich noch einen Ausgleich, auch wenn dies bedeutete, dass ich mit vielen Studenten noch Einzelfotos machen musste, da alle eine Erinnerung an mich haben wollten. Das beste Foto wurde dabei jenes, in dem ich besagten Matsubara und einen anderen japanischen Studenten am Kragen hochnehmen sollte, als ob sie Gewichte wären. Bei deren Körpergröße und Gewicht für mich natürlich kein Problem und für die Japaner ein großer Spaß.

Ansonsten geht das Leben nach dem Abschluss der Studenten endlich wieder normaleren Bahnen entgegen und man kann das Büro wieder in Ruhe und alleine nutzen. Wobei mir gestern die Ergebnisse der großen Universitätsumfrage der Tohoku in die Hände fielen. Beim Punkt „Erfahrungen mit Unfällen und Vorfällen“ lag neben den natürlichen Verkehrsunfällen der Punkt „Sehen von verdächtigen Personen“ auf Rang zwei. Wonach entschieden wird, wer verdächtig ist, würde mich schon interessieren und wieso so etwas in eine Auflistung mit Stalking, Raub und Unfällen als Punkt aufgenommen wird. Bei der Reaktion einiger Studenten hier im Gebäude, wenn ich auf dem Weg zum Büro bin, will ich nicht wissen, wie häufig ich damit gemeint war. Wobei ich dabei noch nicht mal die kurzen Wege zur Mensa im kurzärmligen Hemd im Winter meine, sondern die allgemeinen Blicke. Dass wir hier auch Ausländer im Gebäude haben, überrascht einige Japaner bis heute noch und manchmal fühlt man sich wie im Zoo.

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