Der Oktober in Sendai

Orsolya hat ein gutes Leben! Erst hat sie für zwei Wochen eine Tagung in San Franzisco und jetzt auch noch drei Tage in Shizuoka. Ich habe wirklich das Falsche studiert, da ich irgendwie nie Tagungen habe. Wobei, im Endeffekt konnte ich bis jetzt schon zwei Jahre meines Lebens für mein Studium in Japan verbringen, was wohl auch nicht so schlecht ist! Auf jeden Fall sollte man meinen, dass ohne sie und mit dem konstanten Regen, welchem wir seit Wochen ausgesetzt sind, das Leben hier ruhiger wird. Aber weit gefehlt! Seit Shimizu wieder da ist, ist das Leben in Sendai interessanter geworden. Ich bin eingebunden in den Alltag der Japaner und so langsam sehen es auch einige, dass ich so etwas wie ein Senpai bin, also ein älterer Student. Diesem soll zwar Respekt entgegengebracht werden, dafür soll dieser aber auch bereit sein, den jüngeren Studenten zu helfen. Wenn ich also nicht Sachen zu meiner Doktorarbeit lese, bin ich immer mehr in den Uniprozess eingebunden. Eine Mitstudentin will sich zum Beispiel für ein Auslandsjahr in Saarbrücken bewerben und ich sollte ihr die Details dafür herausfinden. Schade nur, dass wir, nachdem ich eine ganze Weile an diesen Unterlagen saß, feststellten, dass sie sich nicht einschreiben will, wie sie erst behauptete. Sie will nur einen Austausch machen, der komplett von der Uni hier organisiert wird. Ein anderer Student möchte nach Wien und hat zu diesem Zweck unser Lab aufgesucht, um mit Norhiro oder Shimizu darüber zu sprechen und die Hilfe für eine Übersetzung zu erbitten. Leider waren beide nicht da und so musste ich ihm Kästners bildhafte Sprache irgendwie erklären. Ich frage mich wirklich, wie der Student in Wien überleben will. Zum einen kann er kein Deutsch und zum anderen ist sein Englisch fast nicht existent. Das wird nie etwas! Aber er soll machen, was er denkt.

Aber auch ansonsten gibt es viel Interaktion zwischen Studenten. Ich habe das Gefühl, es handelt sich um einiges mehr an Interaktion, als sie in Göttingen vorkommt. Während in Göttingen oftmals ein Art Wettbewerbsgedanke existiert und die Leute nur in ihren Gruppen bleiben, so ist hier in Sendai das Ziel das gemeinsame Bestehen, was ich als sehr angenehm empfinde. So philosophiere ich zum Beispiel nur allzu gerne mit einer Bekannten über ihre Masterarbeit über deutsche Glücksbringer, denn woher soll sie es denn sonst auch lernen. Es ist nicht so, als ob die Professoren ihr helfen würden und Bücher sind halt doch sehr theoretisch. Übertrieben wird es nur in gewissen Fällen. Vielen Studenten wird hier beigebracht, internationale Quellen zu lesen. Leider wird dies so interpretiert, dass man auch in der Sprache des Landes lesen muss, über das man schreibt. So hatte eine Bekannte von Mai einen Vortrag über das Bankenwesen in Rotterdam in der frühen Neuzeit und sie wollte dazu Quellen auf Niederländisch lesen. Das wäre an sich ja kein Problem, wenn sie die Sprache könnte. So erschien Mai vor mir und bat mich, doch bitte den Text zu lesen. Niederländisch mag zwar nahe am Deutsch sein, aber trotzdem braucht man viel Fantasie. Besonders beim Chronistenniederländisch aus dem 17. Jahrhundert wird das aber schon leicht fragwürdig. Drei Stunden saß ich an der Übersetzung, nur damit wir später herausfanden, dass in der Quelle gar nicht stand, was die Studentin wissen wollte. Eine Doktorandin hatte wirklich noch nicht gehört, wie Fußnoten in der Forschung funktionieren. Sie hatte eine Fußnote gefunden und daraus geschlossen, dass dort weiterführende Informationen zu ihrem Thema stehen müssen. Leider war es aber nur eine Belegfußnote, welche auf den vollen Beschluss einer Ratssitzung verwies, welche im Fließtext nur in einem Nebensatz erwähnt wurde. So musste ich einer Doktorandin wirklich noch die fundamentalsten Dinge über Forschung erklären und Material ausfindig machen. Ein wenig fragwürdig ist das schon. Die Frage kommt da auf, ob ich nicht gleich die ganze Arbeit hätte hier schrieben sollen, wo augenscheinlich weniger Qualität erwartet wird. Vermutlich ist es aber für die Zukunft eh besser, mehr Mühe investiert zu haben. Immerhin wird mir immer klarer, weshalb meine Methoden in der Anfangszeit meines Aufenthalts nicht fruchten wollten. Es wird von den Studenten einfach nicht erwartet.

Insgesamt mache ich das Helfen aber gerne. Das Gemeinschaftsgefühl hier an der Uni ist wirklich riesig. Nur ein Problem hatte ich vor kurzem: Als einer meiner Schüler mich im Supermarkt erkannte und mich mit „Herrn“ ansprach, fühlte ich mich auf einmal so alt.

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