Während die einen mit oder um ihr Fahrrad kämpfen, legen sich andere Menschen gleich ganz mit der japanischen Bürokratie an und ich habe Schuld daran. Als Geisteswissenschaftler hat man in einer Universität seine Vorteile. Als eben jener hat man es relativ einfach, da die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass die Fakultät auf dem Hauptcampus ist und dieser liegt meist zentral. Ganz anders sieht das bei den Naturwissenschaftlern aus. Weil man fürs Forschen neue Gebäude braucht oder weil Experimente außerhalb des Stadtzentrums etwas sicherer sind, haben die meisten Universitäten, die ich kenne, die Naturwissenschaften abseits gelegen auf einem anderen Campus untergebracht. In Göttingen ist es der Nordcampus, welcher 20 Minuten auswärts des Stadtzentrums liegt, was in Göttingen schon viel ist. Hier in Sendai ist der Campus auf Aobayama, einem relativ steilen Berg, wo das Fahren mit dem Rad schon voraussetzt, dass man auf dem Campus ein Set mit Ersatzkleidung liegen hat. Das Problem bei uns ist, dass Orsolya genau dort studiert und das letzte Stück den Berg hinauf täglich kostbare Zeit kostet.
Deshalb habe ich ihr vor ein paar Wochen den Vorschlag gemacht, dass sie sich, wie für eine Europäerin hier in Japan möglich, ihren Führerschein ohne Test einfach umtauschen lassen soll. Leider kam es, wie es kommen musste und Ungarn ist das einzige Land, welches keine derartige Vereinbarung mit Japan hat. So war Orsolya gefordert, den Führerschein von Anfang an zu machen und das ist anders, als man es in Europa gewöhnt ist. Zum einen benötigt man keine Fahrschule. Diese ist zwar hilfreich und man kann Übungsstunden auf einer Teststrecke nachweisen, diese kann man aber auch mit der Familie absolvieren. Dies führt aber leider zu einem unvorstellbar peniblen Test am Tag der Fahrprüfung. Alles fängt damit an, dass man sich um 8.00 Uhr morgens auf der Teststrecke in Izumi, am Rand der Stadt, einfinden muss. Dort erhält man am Morgen eine Einführung in alles Wichtige, was man fürs Fahren wissen sollte. Im Anschluss absolviert man eine theoretische Prüfung. Diese umfasst für Autofahrer 10 Fragen und ist sehr einfach. Für Motorrollerfahrer, welche keinen praktischen Test im Anschluss benötigen, sind es dagegen 30 Fragen, welche aber trotzdem ohne Lernen lösbar sind. Nach diesem Zeitpunkt hat der normale Japaner einen Motorrollerführerschein. Keine praktische Fahrstunde hinter sich, einen kleinen theoretischen Test absolviert und schon wird er auf die Straße und die Menschheit losgelassen. Da Motorroller ja kaum Platz wegnehmen, sind sie gerade bei Studenten das Fortbewegungsmittel Nummer 1. Wenn ich nur daran denke, bin ich heutzutage noch vorsichtiger, wenn einige von denen auf mich zukommen. Für Autofahrer dagegen gibt es im Anschluss eine praktische Prüfung, welche vor Kleinlichkeit nur strotzt. Auf einem kleinen Parcours befinden sich einige Hindernisse, wie man sie auch im Straßenverkehr finden kann. Während diese Szene nun abgefahren wird, achtet der Prüfer auf jedes kleinste Detail. Das führt dazu, dass schon das zu weite Ausholen bei Kurven zum Durchfallen reicht. Übersetzt bedeutet dies, dass man am besten fast an der Mauer entlang schrammen sollte. Der normale Ausländer braucht deshalb bis zu 10 Versuche, um den Führerschein endlich zu erhalten. Da Orsolya aber nur einen Roller wollte, sollte der 30 Fragen Test für unsere Zwecke schon reichen. Sie schaffte es und das eigentliche Problem konnte beginnen:
Was für einen Roller kaufe ich? Kaufe kein Auto ohne Probefahrt! Wer kennt diese Aussage nicht? Dies gilt natürlich auch für Motorroller, aber hier in Japan ist das nicht möglich. Von uns wurde erwartet, ein 400 bis 1.000 Euro teuren gebrauchten Motorroller zu kaufen, ohne ihn einmal angestellt zu erleben. In mir brodelte es, aber nachdem auch im vierten Laden nicht einmal das Anstellen möglich war, musste ich mich den Gepflogenheiten zähneknirschend stellen. Es blieb uns nichts anderes übrig, als auf die Aussagen der Verkäufer zu vertrauen, dass die Angaben zur Lautstärke und Problemen des Motorrollers den Gegebenheiten entsprechen. Zum Glück fanden wir im Endeffekt einen brauchbaren Roller, auch wenn ich dort eigentlich nicht kaufen wollte. Man wollte mir auch gleich einen Helm andrehen und argumentierte, dass XL schließlich jedem passen würde. Trotz meiner Ablehnung stülpte man mir das Teil über und siehe da, ich kann nicht mal die größten japanischen Helme tragen, denn mein Kopf ist zu groß. Das ist aber letztendlich auch kein Problem, da die Sitzproben auf dem Roller ergaben, dass ich diesen mit meinen Knien lenken müsste, was wohl nicht im Sinne des Erfinders ist.
Am wichtigsten ist aber, dass es sich für Orsolya gelohnt hat. Der Weg zu ihrer Fakultät hat sich von 30 – 45 Minuten, auf unter 10 reduziert. Für mich hatte es aber auch etwas Gutes: Neben dem Stress bei der Motorrollersuche und dem Finden aller Dokumente für den Führerschein, steht so wenigstens ein Fahrrad meist ungenutzt herum. Und wer könnte dieses besser benutzten, als die Person, welche seit 19 Wochen um sein eigenes kämpft? So haben wir eine Win-Win Situation und ich sehe zwar etwas lustig auf dem viel zu kleinen Rad aus, aber es ist besser als nichts.
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