Auf der Jagd

Es ist 21.00 Uhr an einem ganz normalen Abend im Büro der deutschen Literatur der Tohoku Universität. Keine Stimme regt sich, die japanischen Studenten haben alle den Heimweg angetreten, nur der deutsche Forschungsstudent sitzt noch da und liest geduldig seine Texte, um mit seinen Forschungen voranzukommen. Was könnte diese Ruhe stören? Die Antwort erreichte mich in Form meines Professors. Professor Morimoto betrat das Büro, überrascht, aber auch erfreut, mich zu sehen. Mich wolle er sowieso sprechen. Für einen Studenten läuten in diesem Moment die Alarmglocken. Man muss mit mir sprechen. Tausend Gedanken gehen mir durch den Kopf: Habe ich etwas falsch gemacht, die deutsche Professorin verärgert, bei der Verwaltung etwas nicht richtig gemacht oder was könnte es sein? Ich fand keine Antwort, aber Herr Morimoto kam zum Glück schnell auf den Punkt. Er reichte mir zwei Fotos und fragte mich, ob ich die Person schon einmal gesehen hätte.
fahndungsfoto

Ja, hatte ich, aber nur auf Facebook in irgendeiner Gruppe, persönlich sagte er mir nicht viel. Aber was sollte das Ganze? War dieser Deutsche verschwunden, oder was war geschehen? Nein, ganz im Gegenteil, ein fünfundzwanzigjähriger Deutscher mit osteuropäischen Wurzeln, welcher von sich behauptete, Student an der Tohoku Universität zu sein, soll in einem Hotel zwei Angestellte geschlagen haben. Die Polizei fand ihn anschließend in unserem Gebäude, nur einen Stock über meinem Büro. Zwei Tage nach seiner Festnahme gelang ihm bei der Vernehmung die Flucht und er wurde zuletzt gesichtet, wie er per Anhalter in Richtung der Universität floh. Mir stellten sich gleich mehrere Fragen: Wieso sollte man Hotelangestellte verprügeln, wenn es nicht eines der anrüchigen Liebeshotels in der Innenstadt war und was erhoffte sich der Verdächtige, in Japan, einem Inselstaat, zu fliehen?

Leider prophezeite mir Professor Morimoto richtig, wie die Geschichte weitergehen würde:  Ein 25jähriger Deutscher, mit Brille, mittellangem Haar und mit einer Größe von 1.85 m für japanische Verhältnisse ein Riese, das konnte nicht gut gehen. Wir Europäer behaupten immer, dass wir Probleme damit hätten, Asiaten auseinanderzuhalten. Leider ist die Situation auf der anderen Seite auch nicht besser. Ich muss sagen, ich bin ja Beobachtung gewohnt, was aber die nächsten zwei Tage los war, ging gar nicht mehr. Es war, als ob ich ein unsichtbares Schild um mich hätte. Die Japaner machten einen möglichst großen Bogen und tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Wachmänner in meinem Bürogebäude hielten sogar die Fahndungsplakate hoch, um sie mit mir zu vergleichen. Immerhin hatte ich noch relativ Glück. Aus Erfahrung vermied ich die nächsten Tage die Innenstadt und Außenbezirke. Deutsche, die das nicht machten, wurden der Reihe nach befragt, ob sie Deutsche wären, geflohen und ob sie nicht den besagten Deutschen kennen würden. Aber es hörte nicht damit auf. Meine „werten“ Freunde in Japan schickten mir auch erst einmal Nachrichten, ob ich es denn wirklich nicht sei, denn schließlich berichten die TV Nachrichten nur von einem jungen großen Deutschen, welcher auf der Flucht sei. Details gab es dazu erst mal nicht. So musste ich einigen Japanern, sehr zu ihrer Freude, erst einmal erklären, dass bei der Aufzählung eindeutig „gutaussehend“ fehlen würde und ich es deshalb auf keinen Fall sein könne. Zum Glück wurde der Verdächtige mittlerweile aber gefangen, so dass ich nun wieder etwas Ruhe habe. Ich bin gespannt, was aus dem Fall wird. Wie ich erfahren habe, ist Frau Wilhelm, eine alte Bekannte und Leiterin der Japanisch-Deutschen Gesellschaft in Sendai, die Übersetzerin für den Deutschen, so dass ich in dem Bereich wohl auf dem Laufenden bleiben werde.

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