Kindermund tut Wahrheit kund oder ein ganz normaler Tag in Japan

Eine der besonderen Fähigkeiten der Japaner ist es, sich zurückzuhalten. Keiner würde es wagen, dich zu stören oder dir etwas direkt zu sagen. Interessant wird es erst, wenn jemand hinzukommt, der noch nicht nach japanischem Standard sozialisiert wurde. Dies sind natürlich die Kinder.

Welche Fragen schwirren also in so einem japanischen Kopf herum und was traut er sich nicht zu fragen? Zu diesem Zweck wollen wir uns heute eine Fallstudie anschauen:
Es ist ein normaler Samstag, zum Kochen bin ich zu faul und so viel teurer wird Sushi auch nicht. Außerdem ist das Fließband-Sushi-Restaurant genau eine Minute neben meiner Wohnung und die örtliche Wirtschaft muss ja auch mal gefördert werden. So sitze ich nun da, spreche mit Orsolya und genieße mein Sushi, wohl wissend, dass eine gewisse Person in Deutschland bei jedem Bissen Schmerzen verspürt, als ob ich gerade auf eine Voodoopuppe einsteche, weil ich japanisches Sushi essen kann und er nicht. Eigentlich ist es der perfekte Abend. Eine unermüdliche Versorgung mit Sushi, eine nette Gesprächspartnerin, was will man mehr?

In diesem Moment geschah es: Das circa fünfjährige Kind, welches gerade mit seiner Mutter ein paar Meter von uns Platz genommen hat, entdeckt uns. Der Albtraum jedes japanischen Erziehungsberechtigten beginnt! Die japanische Erziehung hat im Alter von fünf bis zehn Jahren noch nicht zugeschlagen und die Angst und Zurückhaltung vor Fremden ist noch nicht so ausgeprägt. Auch das Reden um ein Thema herum, nur um etwas nicht direkt aussprechen zu müssen wurde noch nicht ausreichend einstudiert. Es fehlt die natürliche Angst vor Fehlern, welche dafür sorgt, dass Japaner über Zwanzig aus Prinzip aussehen, als ob sie sich am liebsten unter dem nächsten Stein verstecken wollten, wenn man sie anspricht. Darum hofft die Mutter des kleinen Jungen garantiert, dass er uns nicht länger ansieht oder sogar anspricht. Zum Schock seiner Mutter tut er eben das, und schlimmer noch, die Ausländer antworten auch noch.

Die Anfänge verlaufen harmlos. „Oh, kennt ihr die Figur auf meiner Karte?“ Welches Sushi mögt ihr?“ Das sind kleine Fragen, die keine Schande bringen und die Mutter wird unvorsichtig, da wohl keine Gefahr der Schande mehr besteht. Schwächen wie diese spüren die meisten Kinder bekanntlich sofort und wissen, sie auszunutzen. In einem unbeobachteten Moment lässt er die Bombe fallen: „Seid ihr etwa Ausländer?“ Jetzt ist es geschehen! Wie kann man sowas nur fragen? Ein hochroter Kopf und viele Entschuldigungen später versucht eine verzweifelte Mutter ihrem Kind zu erklären, dass man so etwas doch nicht fragen kann und sowieso, er soll uns doch lieber essen lassen, ehe weitere Peinlichkeiten entstehen. Tja, leider hat die Dame die Rechnung ohne die bösen Ausländer gemacht! Mut muss belohnt werden und sowieso unterstützen wir es, wenn japanische Kinder sich trauen, mit Ausländern zu sprechen! Vielleicht lernen sie ja so etwas für die Zukunft und wir antworten auf jede Frage.

Während ich also weiter mein Sushi genieße, schlägt das Karma unermüdlich zurück. Ich hätte mich wohl doch nicht innerlich über oben genannte Person lustig machen sollen, denn die Rache folgt sofort. Kindermund tut bekanntlich oftmals Wahrheit kund, wie das Sprichwort sagt. Nun ergibt es sich, dass ich mit meinen 1,94 m doch etwas mehr essen kann und auch muss, als das der typische Japaner tut. Als das Kind uns ansprach, hatte ich deshalb gerade eine Reisschüssel mit Sashimi aufgegessen, als ich beschloss, noch ein paar Sushis zu probieren. Das konnte sich unser Kleiner ja gar nicht vorstellen. Nach jedem Teller kam die Frage, ob ich denn immer noch nicht fertig bin. Seine Eltern können nicht so viel essen. Schade eigentlich, dass nicht einige meiner Bekannten aus Deutschland da waren, er wäre wohl vom Glauben abgefallen, wie viel man wirklich essen kann. Leider wirkte aber keines meiner Argumente. Nein, seine Mutter welche sich mittlerweile mit dem Schicksal abgefunden hatte, schaffte es sogar noch, mir in den Rücken zu fallen. Man muss viel essen, um groß und stark zu werden, dieses Argument leuchtete ihm ein. Nur leider merkte seine Mutter dazu noch an, dass man, man wenn man groß ist, auch leicht eine Frau findet. Nein, dann kann man doch nicht viel essen, wer mag schon Mädchen! Das war die Antwort, welche alle meine Argumentationsversuche im Nu relativierten. So bleib mir nichts anderes übrig, als der Stimme meines Gewissens – ausgesprochen durch den Kleinen – zu folgen und das Abendbrot zu beenden. Er hatte ja recht.

Lustig war es aber für uns aus einem anderen Grund: Wenn man etwas Japanisch kann, merkt man, dass die Aussagen gar nicht so weit entfernt von den Aussagen sind, welche erwachsene Japaner so von sich geben. Wie oft habe ich fast identische Aussagen gehört, als Japaner im Hintergrund über uns sprachen, aber dachten, wir verstehen sie nicht. Sogar im Laden bemitleidete ein Sushikoch den für uns Verantwortlichen, dass er sich ja um Ausländer kümmern müsse. Dieser revidierte das aber, da wir ja Japanisch sprechen würden, wodurch er Glück gehabt hätte. Wollt ihr also mal die wirklichen Gedanken von Japanern hören, fragt die Kinder. Außerdem ist es viel lustiger, die Eltern schwitzen zu sehen, wenn der Nachwuchs interkulturelle Kontakte knüpft, was man sich selber nicht trauen würde.

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