Wir befinden uns in einem dunklen und stickigen Raum, gefüllt mit viel zu vielen Menschen in gelben T-Shirts. Alle Anwesenden schauen zum Ende des langen Tisches. Dort sitzt ER – der Chef der Gruppe. Wie in Japan üblich, hat er die Entscheidungsgewalt. Wenn er redet, sind alle ruhig, wenn er anfeuert, singen alle mit und wenn er die Unterstützung einstellt, dann fangen gestandene Männer schon einmal mit dem Weinen an. Heute müssen wichtige Entscheidungen fallen, denn es ist in einigen Tagen soweit, die J-League fängt wieder an. Es wird Zeit, um die letzten Pläne der Sendai Ultras für das Derby gegen Yamagata vorzubereiten. Eine Saison wie die letzte darf sich nicht wiederholen und den lautstarken Nachbarn aus Yamagata darf man gar nicht erst Gelegenheit geben, in Euphorie zu verfallen. Wie weit sind die Vorbereitungen für die Choreo? Aus dem Schatten löst sich die Nummer zwei und erklärt zitternd das Problem: Es ist maximal genug Konfetti vorhanden, um das halbe Stadion auszustatten! Während er dies berichtet, wirft er sich auf den Boden, um die entschuldigendste Geste, die Japaner kennen, auszuführen. Nein! Ein halbes Stadion nur? So etwas darf nicht passieren! Nach kurzem Überlegen richtet der Chef das Wort an seine Ultras: Kameraden, wie ihr wisst, gibt es nichts Wichtiger als den Verein. Jeder von uns muss Opfer bringen, um die Situation zu lösen. Es gibt nur einen Weg: Jeder von euch muss seine Pornosammlung opfern!
Von dieser persönlichen Tragodie, sollte wenige Tage später niemand etwas merken, als die Ultras ausschwärmten, um jeden einzelnen der 18.000 Anhänger auf Sendais Seite einen Stapel von zerschnittenem Zeitungspapier zu übergeben, getränkt mit den Tränen der edelen Spender……
So oder so ähnlich stellten wir uns am Wochenende das Entstehen der großen Choreo vor, aber ich berichte lieber von Anfang an: Endlich fängt die Fußballsaison wieder an und dann gleich mit einem Derby. Vegalta Sendai, mit Mühe und Not in der letzten Saison dem Abstieg entgangen, hat den großen Umbruch angefangen. Ein Gros wichtiger Spieler um den Kapitän haben den Verein verlassen und Sendai versucht, die Verluste durch Spieler, welche schon einmal eine gewisse Klasse gezeigt haben, aber jetzt in der 2. Liga spielten, aufzufangen. Besonders der Verlust von Akanime und Kakuda dürfte schwer ins Gewicht fallen. Akanime ist der beste Stürmer Sendais gewesen. Er hat sich dem japanischen Meister Gamba angeschlossen und der alternde 6er Kakuda war der Spieler, der als Kapitain das Spiel und die Mannschaft zusammenhielt. Alle Vorschauen sagen Sendai deshalb eine schwere Saison voraus und sehen den Verein als potentiellen Absteiger. Montedio Yamagata dagegen hat das Kunststück geschafft, als Sechster der 2. Liga aufzusteigen. Die Relegation konnten sie insbesondere dank einem Sieg gegen die hohen Favoriten aus Iwata mit einem Tor in der Nachspielzeit durch Torwart Yamagishi gewinnen. Es gilt wie in jedem Land, Relegation ist eine fragwürdige Art, den Aufstieg zu ermitteln. Seit dem Aufstieg ist in Yamagata der Fußballboom ausgebrochen und Yamagata versuchte, sein Team durch Einkäufe aus der ersten Liga zu stärken. Von besonderer Brisanz sind für das Spiel gegen Sendai aber die beiden Spieler, welche die Vereine jeweils vom Gegner geholt haben.
Bei bestem Fußballwetter war das Stadion natürlich ausverkauft. Schon beim Verkaufsbeginn schockte mich mein örtlicher Händler, mit einem „Ausverkauft“ direkt eine Minute nach Verkaufsbeginn. Ich hatte aber Glück, nach großer Tour durch die Stadt im Fanshop noch Karten zu erhalten. Ein gut gefülltes Stadion, die zwei wohl lautstärksten Fangruppen der Liga, es war also alles für ein Fußballfest angerichtet. Nur bei meinen Freunden gab es einige Probleme. Zeitgleich fanden die Graduierungszeremonien der örtlichen Schulen statt, weshalb einige nicht konnten. Kuma erhielt so zum Beispiel von seinem Sohn die Sondererlaubnis, von der Veranstaltung fernzubleiben, damit wenigstens ein Familienmitglied beim Spiel sein konnte. Ein anderes Mädchen erschien erst zur Halbzeit, direkt von der Zeremonie. Am schwersten hatte es aber den neuen Star Sendais getroffen. Der 18-jährige Motegi verzichtete auf seine Abschlussfeier, um in der Startelf von Sendai zu stehen.
Als die Spieler den Rasen betraten, fing auch schon die Choreohölle an. Jeder Fan hatte einen Stapel von Zeitungspapier erhalten, welchen er werfen sollte. Es gab ein Banner und mehrere weitere Sachen, welche eine stadionweite Choreo erlaubten. Erst nach der Choreo wurde vielen von uns klar, was wir da eigentlich gerade geworfen haben. In Japan gibt es eine Vielzahl von Comics, welche ab 18 sind und relativ explizite Themen haben. Eine Vielzahl des Konfettis war aus eben jenen Zeitungen. Die Männer des Blocks hoben diese einzeln auf, amüsierten sich kurz, nur um sie mit rotem Kopf unter den Sitz zu werfen, um kurz später dann das Schauspiel zu wiederholen. Die Frauen im Block, besonders die mit kleinen Kindern, habe ich noch nie so schnell aufräumen sehen, wie es nach der Aktion der Fall war. Immerhin, nach dem Spiel gingen die Ultras durch alle Blöcke und reinigten diese zusammen mit den anderen Fans. Für uns Ausländer war es aber natürlich ein gefundenes Fressen, uns vorzustellen, wie die Fans im sonst so prüden Japan gerade auf die Idee gekommen sind, derartige Zeitungen als Wurfgut zu nehmen. In Deutschland hätten wir wohl eine PR-Katastrophe damit erreicht.
Das Spiel selber lief dagegen relativ langsam an. Yamagata verteidigte eisern und Vegalta in einer Behelfsaufstellung fehlten ein wenig die Mittel, um die gegnerische Abwehr auszuhebeln. Besonders erschwerend war die Tatsache, das Ramos, ein Brasilianer, als Stürmer aushelfen musste, da der beste Sendaier Stürmer Wilson nicht fit ist. Schon vor einem Monat musste er öffentlich versprechen, auf Cola und Chips zu verzichten, um für die Saison in Form zu kommen, aber bis heute reicht es noch nicht. Ohne Ramos im Mittelfeld, wurde dieses des Öfteren überrannt und es fehlte der entscheidene Pass. Was Ramos aber anbot, hatte etwas und er dürfte Sendais meist unterschätzter Spieler sein. Ab der 63. Minute änderte sich das Spiel. Vegaltas Nozawa erhielt eine Gelb-Rote Karte und Vegalta wurde immer mehr in die eigene Hälfte gedrückt. Lustig war, dass die Gelb-Rote uns erst später auffiel. Niemand regte sich auf und der Spieler hatte das Feld ohne Diskussion so schnell verlassen, das bin ich gar nicht gewöhnt.
In der 78. Minute entschied sich der Trainer nun zu einem interessanten Wechsel. Anstatt das Mittelfeld zu stärken, nahm er den Aktivposten im Sturm Ramos heraus und brachte seinen Landsmann Wilson. Der ist wirklich noch nicht bei 100 Prozent und im Vergleich zum Vorjahr spannt das Trikot auch etwas mehr. Dementsprechend wenig lief er auch und wir fragten uns schon, ob der Wechsel nicht ein riesiger Fehler war. Wilson mag zwar nicht so fit sein, seinen Torriecher hat er aber nicht verloren. In seinem ersten Sprint stand er gleich richtig, um eine gefühlvolle Flanke zum vielumjubelten 1 : 0 zu verwandeln. Jetzt hieß es, Ruhe zu bewahren. Yamagata wollte das Tor und kam nun immer öfter zu guten Chancen. In der 87. Minute passierte nun das Unglaubliche. Yamagatas Yamagishi stand auf einmal bei einer Ecke im gegnerischen Strafraum, in der Hoffnung, sein Tor gegen Iwata zu wiederholen. Dieser Versuch scheiterte und obwohl Vegaltas Konter sehr langsam verlief, kam es im Endeffekt zu einem Zweikampf zwischen Wilson und Yamagishi, welchen dieser, aus der Puste wie er war, nicht gewinnen konnte. Wilson hatte Sendai zum Sieg geschossen und Yamagata konnte in den nächsten 8 Minuten nichts mehr erreichen. Die Motivation war mit dieser Aktion eindeutig gebrochen. So feierte das Stadion den Auftaktsieg und wir hoffen, dass die Saison so weitergeht.
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